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„Pietà“ (2023) von Astrid Gamper
Eine Einladung: poetisch, politisch, Pietà

 

„Pietà“ nennt Astrid Gamper ihr neuestes Werk: Eine großflächige über zwei Meter hohe weiße Arbeit: Schichten aus Weiß (Kreide, Grafit) überlagern sich, Ebene über Ebene, Zeichnung über Zeichnung. Eine mehrschichtige Ummantelung. Gampers Ausdrucksmittel ist die Bleistiftzeichnung, die sie mit einer raffinierten Technik von mehrfachen, vielschichtigen Papierüberlagerungen verbindet. Dadurch entsteht ein dreidimensionales Werk, das plastisch und haptisch in den Raum tritt. 

 

Die Künstlerin stellt nicht Maria als Mater Dolorosa dar, sondern webt die Verletzlichkeit und Verletzbarkeit eines Mädchens in die Identität der Pietà ein. Das Mädchen zeigt sich in seiner Form mehrdimensional, fragmentiert, geheimnisvoll und ist mutterseelenallein, äußerlich zerrissen, in sich zusammengekauert. Wo sind die Hände, die halten, trösten, pflegen? Die Hände, die Geborgenheit geben, auffangen, wahrnehmen? Die retten, helfen, berühren? 

 

Astrid Gampers Arbeit ist eine stille und poetische Arbeit, die mit sanfter Macht schreit und einlädt. Eine politische Arbeit. Ich sehe die Pietà als Schrei gegen Gewalt an Mädchen und Frauen, die weltweit in allen Kulturen, Religionen, Gesellschaften verbreitet ist. Ein unmissverständlicher Schrei gegen die unfassbaren Zahlen, die wir kennen, an die wir uns „gewöhnt“ haben: Fast jede dritte Frau ist während ihres Lebens einmal Gewalt ausgesetzt; weltweit werden jährlich 50.000 Frauen von ihrem Partner oder einem Familienmitglied getötet, jährlich werden 12 Millionen minderjährige Mädchen zwangsverheiratet. Mädchen werden in fast allen Teilen der Welt benachteiligt, abgewertet, diskriminiert; Mädchen werden genitalverstümmelt. Die sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen in Kriegs- und Krisengebieten nimmt gerade stetig zu. In einigen Ländern werden Mädchen und Frauen aus dem öffentlichen Raum geradezu verdrängt. 72 Prozent der Opfer von Menschenhandel sind Mädchen und Frauen; die meisten werden sexuell ausgebeutet und/oder zur Prostitution gezwungen. (Quellen: medica mondiale, UN-Statistiken, Frauenatlas von Toni Seager).

 

Astrid Gampers Arbeit „Pietà“ (2023) wirkt auf den ersten Blick zunächst hermetisch geschlossen, verschlüsselt, bleibt geheimnisvoll, flüstert, wimmert, ruft aus dem Innern. Sie ist auch anmutig in ihren weiß-hell-grauen Tönen, wirkt wie das Abbild eines gefalteten Leinentuchs einer abwesenden Figur. Die Pietà erschließt sich nicht sofort; sie braucht unsere ganze Aufmerksamkeit und lädt zur intensiven Auseinandersetzung ein, zum genauen Hinschauen, zum aufmerksamen Hinhören, zum ernsthaften Nachdenken. Sie will verstanden werden. Wenn wir als Betrachter:innen uns auf sie einlassen, können wir sie verstehen. Es geht um das Leben, das Erkennen des Fragilen, – im Mädchen, in uns – um Verletzlichkeiten, Verletzungen, Brüche, Wunden und Verwundbarkeit. Die Wunde aus Moos kündigt schon die Wende an, Neues kann entstehen, abseits von possessiven, patriarchalen Strukturen. Die Künstlerin spürt mit ihrer Arbeit Auswegen nach. Wir könnten anders leben, Verantwortung übernehmen, in unserem täglichen Leben positive Muster übernehmen, im Denken und Handeln. Emotional und intellektuell.  

 

Es scheint, als wolle die Künstlerin mit ihrer Pietà einen neuen Ort schaffen, einen Ort von Verdichtung in diesem Gewebe aus Papierfragmenten, Schichten von Weiß, Bleistift- und Kreidezeichnungen, die behutsam Kanten und Ecken, Risse und Wunden berühren. Einen Ort, in dem wir der Pietà begegnen können mit einer klaren Haltung: Der Haltung von Solidarität und Respekt, von Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit und einer neuen Politik des Miteinander in einer von Krisen und Unsicherheiten geprägten Zeit. 

 

Astrid Gamper fordert uns zu einer geistigen Haltung heraus, mit der wir sanft, stark und frei das Potenzial des Lebens freisetzen und menschlich handeln können. Mit den Worten der Philosophin Eva von Redecker: „pflegen statt beherrschen, regenerieren statt erschöpfen, teilhaben statt verwerten“. 

 

Heidi Hintner, im Oktober 2023 

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